150 Jahre Sozialdemokratie

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Dr. Timo Luks, Historiker
Dr. Timo Luks, Historiker

[von Dr. Timo Luks]

 

Ich werde im Folgenden nicht die Ahnengalerie der SPD abschreiten. Eine Vorstellung der sozialdemokratischen Parteivorsitzenden, Kanzler und sonstiger berühmter Namen, kann zwar aufschlussreich sein, ich würde Ihnen dann aber nur Dinge erzählen, die Sie schon wissen. Stattdessen habe ich meinen Überblick um zwei Themenblöcke herum organisiert: erstens die Frage nach der Mitglieder- und Wählerbasis der Sozialdemokratie; zweitens die Frage nach den Wertvorstellungen und Zukunftshoffnungen.

Eine detaillierte Geschichte der Chemnitzer SPD biete ich Ihnen dabei nicht. Stattdessen nehme ich einen allgemeinen Überblick in Angriff, den ich – wo immer das aufschlussreich erscheint – mit Chemnitzer Beispielen illustrieren werde. Die Chemnitzer Beispiele entnehme ich ausnahmslos der verdienstvollen Geschichte der hiesigen Arbeiterbewegung von Karl-Heinz Schaller.

Lassen Sie unseren chronologischen Spaziergang durch die Geschichte der SPD nun also beginnen.

Erste Phase: 1863-1878

Wenn in diesem Jahr der 150. Geburtstag der deutschen Sozialdemokratie begangen wird, dann verweist das auf das Jahr 1863. Das Jubiläum bezieht sich auf die Gründung des ADAV, des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins, durch Ferdinand Lassalle am 23. Mai 1863 in Leipzig. Die Parteigründungsphase begann 1863 mit dem ADAV, setzte sich am 9. August 1869 in Eisenach mit der Gründung der SDAP, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, durch August Bebel und Wilhelm Liebknecht fort und kam mit dem Vereinigungsparteitag vom 22. bis 27. Mai 1875 in Gotha und der dort vollzogenen Gründung der SAP, der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, zu einem vorläufigen Ende. Das verlief nicht immer konfliktfrei. Gegenseitige Störungen der Treffen konkurrierender Richtungen Luks, Vortrag: 150 Jahre Sozialdemokratie 2 waren in dieser Zeit in Chemnitz uns anderswo so selten nicht. 1 Bis zum Vereinigungsparteitag gab es reichsweit zwei große Arbeiterparteien – und es gab die Chemnitzer Arbeiter, die einen ‚Sonderweg‘ gingen und einer dritten Richtung, dem überall sonst marginalisierten LADAV der Gräfin Hatzfeld, anhingen. 2 Diese Phase der Parteigründung stellt aus Sicht des Historikers allerdings bereits als die zweite Gründung der Sozialdemokratie dar. Als politisch-soziale Bewegung erblickte sie nämlich bereits 1848 das Licht der Welt – nur lassen sich die diffusen Anfänge einer sozialen Bewegung schlecht an einem konkreten Datum festmachen, was für Jubiläumsfeiern nun aber einmal unabdingbar ist. Die frühe Sozialdemokratie war bis in die 1870er Jahre eine Bewegung der Nichtetablierten.3 Ihre soziale Basis war handwerklich geprägt und sehr viel offener und heterogener als es eine reine Gewerkschaftsbewegung hätte sein können. 4 Die frühe Sozialdemokratie war gerade nicht durch eine Verengung der Perspektive auf die Fabrik- und Lohnarbeit gekennzeichnet. Man war sehr wohl eine Arbeiterpartei, aber der Begriff des ‚Arbeiters‘ war weit gefasst und sollte „eine möglichst umfassende Solidarisierung aller qualifizierten Produzenten ermöglichen, wo [auch] immer sie beschäftigt“ waren.5 Die handwerkliche Prägung zeigte sich natürlich nicht überall in gleichem Maß. In Chemnitz fehlten im Arbeiterbildungsverein bereits in den 1860er Jahren die sonst überall vertretenen Handwerkergesellen und kleinen Gewerbetreibenden. Wie nirgends sonst dominierten hier bereits zu diesem Zeitpunkt die Fabrikarbeiter. 6 Hinsichtlich ihrer Organisationsformen war die frühe Sozialdemokratie eine Vereinsbewegung. Man schloss an aufklärerische, radikaldemokratische und, heute würde man sagen: ‚zivilgesellschaftliche‘ Werte und Ideale an:
Offenheit und Öffentlichkeit, Transparenz und Teilhabe.

Die frühe Sozialdemokratie begriff Vereinstätigkeit als eine Form gelebter Demokratie und als Vorgriff auf die Zukunft – im Gegensatz zu den geheimbündlerischen Anwandlungen kommunistischer oder frühsozialistischer Sekten, aber auch im Gegensatz zu den elitären Formen des bürgerlichen Vereinswesens.7 Die hellsten Sterne am sozialdemokratischen Wertehimmel waren Demokratie und Selbstbestimmung. ‚Selbstbestimmung‘ bezeichnete ein individuelles Persönlichkeitsrecht und eine politische Aktivbürgerlichkeit, von der man glaubte, sie könne sich nur im Verbund mit anderen Aktiv- bürgern, in Assoziationen, verwirklichen. 8 „Die frühen deutschen Sozialdemokraten“, so der Historiker Thomas Welskopp, „waren alles andere als konturlose Kollektivwesen. Ihre Teilnahme an den politischen und sozialen Kämpfen der Zeit bedeutete nicht zuletzt ein leidenschaftliches Plädoyer für ihren Anspruch, die Anerkennung als selbstbestimmte Persönlichkeiten in den Strukturen der modernen Gesellschaft zu verankern.“9

Zweite Phase: 1878-1890

Die Frühphase der Sozialdemokratie endete mit dem Sozialistengesetz 1878, das bis 1890 in Kraft blieb. Diese Epoche nimmt im Rückblick ein wenig den Charakter einer Black Box an. Entsprechend einer verbreiteten Ansicht ging auf der einen Seite eine heterogene, eher handwerkliche Partei mit relativ offener Weltanschauung und diffusen Zukunftsvorstellungen hinein; und auf der anderen Seite kam eine relativ homogene Partei der Industriearbeiterschaft heraus – eine Klassenpartei mit zunehmend verfestigter marxistischer Weltanschauung. Im Einzelnen muss man das natürlich differenzieren. Die Sozialdemokratie konservierte in dieser Phase anfangs noch ihren handwerklichen und Vereinscharakter. Sie blieb eine radikaldemokratische Volksbewegung. 10 In die 1880er Jahre fällt aber auch der zaghafte Durchbruch zur Massenorganisation, wenn auch (noch) nicht zur industrieproletarischen Klassenpartei. 11 Unter dem Druck der staatlichen Verfolgung setzte ein schleichender Strukturwandel ein, der eine Konzentration auf Wahlen und Wahlkämpfe sowie eine deutliche Ver- gewerkschaftlichung mit sich brachte. 12 Das Parlament wurde als Werbeplattform verstanden und genutzt, die einzige öffentliche Plattform, die man noch hatte. Gleichzeitig verfestigte sich das sozialdemokratische Milieu und schottete sich, gezwungener Maßen, weiter ab.

Dritte Phase: 1890-1914/18

Die Geschichte der SPD seit dem Ende des Sozialistengesetzes lässt sich einerseits als permanente Erfolgsgeschichte, andererseits als Geschichte einer sich abzeichnenden Spaltung interpretieren. Seit 1890 konnte sich die SPD über ein anhaltendes, massives Mitgliederwachstum freuen und verzeichnete ein ums andere Mal erhebliche Zuwächse bei Land- und Reichstagswahlen. Während im Chemnitzer Reichstagswahlkreis die Mitgliederzahlen in den 1890er Jahren vorerst noch stagnierten (irgendwo zwischen 1100 und 1500 pendelnd), brach der Damm mit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts: 1902 waren es ca. 2000 Mitglieder, 1911 gut 9000 und im Juni 1914 dann schließlich knapp über 20.000. 13 Die Wahlergebnisse wiesen einen ähnlichen Trend auf. Wie man mit diesen Erfolgen umgehen sollte, wurde schnell zur Streitfrage. Auf der einen Seite entstand ein parlamentarisch-reformistischer Flügel, der auf eine grundlegende Revision der Ausrichtung und des Programms der Partei drang. Auf der anderen Seite formierte sich eine linke Opposition, die revolutionär, nicht per se anti-parlamentarisch aber eben doch parlamentarismus- und reformskeptisch orientiert war. Das Erfurter Programm von 1890 stellte einen vorsichtig austarierten Kompromiss beider Flügel dar. 14 Gleichzeitig kam es überall zu einem Professionalisierungsschub, der durch den Wandel zur wirklichen Massenpartei unausweichlich war, auch in Chemnitz.

„Der Antritt Noskes und Heilmanns [1912] in Chemnitz signalisierte“ – ganz im Trend der allgemeinen Parteientwicklung, so Karlheinz Schaller, „einen Generations- und Politikwechsel […]. […] Jetzt […] wurden Partei und Gewerkschaften Großorganisationen mit festgefügten Strukturen. Das erforderte eine systematische Verwaltung und eine Professionalisierung. Ein Partei- und Gewerkschaftsapparat entstand. […] In Chemnitz gelangte er in die Hände des rechten Flügels“.15

Auch in Sachen Mobilisierung, Agitation und Wählerbasis lassen sich einige Trends erkennen, mit denen die SPD am Vorabend des Ersten Weltkriegs zu kämpfen hatte: der Anteil der Arbeiterklasse an der Gesamtbevölkerung stagnierte, das städtische Wählerpotential schien ausgeschöpft und ein gewisser Sättigungsprozess vollzogen zu sein. 16 Eigene parlamentarische Mehrheiten waren trotz aller Expansion freilich nirgends in Sicht. Die SPD war in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zwar keine reine Klassenpartei, aber doch „mehrheitlich eine Partei handwerklich qualifizierter Facharbeiter geworden, mit einem erheblichen Anteil an Mitgliedern in Großbetrieben und Fabriken. […] Die SPD […] hatte sich um ihren handwerklich-gewerblichen Kern nun eine expandierende industrielle Peripherie gelegt.“17 Merkliche Einbrüche in andere Wählergruppen – katholische Industriearbeiter, (ostelbische) Landarbeiter, Kleinbürgertum, Intellektuelle usw. – gelangen aber nicht. 18 Das Hauptproblem der SPD lag aber nicht darin, dass sich ihre Ausdehnung verlangsamte, sondern vielmehr in dem Umstand, dass sie unter den autoritären, klassengesellschaftlichen Bedingungen des Kaiserreichs kaum auch nur „einen gewissen Erfolg erringen könnte, der mit ihrer zahlenmäßigen Stärke im Einklang stand. […] [U]nter dem Anstoß der während all dieser Jahre angewachsenen Enttäuschung [begann die Partei] die Geduld zu verlieren. Und die Ungeduld, die sie zeigte, war nicht einfacher, sondern doppelter Natur: reformistisch und revolutionär.“ 19

Vierte Phase: 1918-1933

Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Novemberrevolution sah die SPD sich mit einer neuen Situation konfrontiert. Angesichts der Herausforderung, erstmals eine eigene Regierung formen zu müssen, stellten sich zwei immer noch nicht abschließend beantwortete Fragen: Wie sollte man sich als sozialdemokratische Bewegung zur bürgerlich-parlamentarischen Demokratie insgesamt positionieren; und: unter welchen Umständen sollte man Koalitionen mit nicht-sozialistischen Parteien eingehen? 20 Die SPD, so der Historiker Peter Brandt, war im Prozess der Revolution zunächst die einzige Kraft, die ein klares Konzept und dafür zudem breite Unterstützung besaß: die Verschränkung demokratischer und sozialistischer Ziele sowie eine rasche Überführung der Revolution in ein legales, parlamentarisches Stadium.21 Der SPD ging es um politische Stabilisie- rung, die als Voraussetzung dafür angesehen wurde, sozialistische Ziele zu verwirklichen. Im Rückblick erweist sich das auch als eine Art Fortsetzung des staatstragenden Kurses der Burgfriedenspolitik, wenn auch mitunter unbewusst. 22 Und genau diese Ausrichtung war es, die jener Spaltung Nahrung gab, die die revolutionäre und unmittelbare nachrevolutionäre Situation prägte, die sich aber bereits im Weltkrieg abzeichnete und manifestierte – über die USPD zum Spartakusbund und letztlich zur KPD als dauerhafter ‚Konkurrenz‘ um die politische Vertretung und Verkörperung der Arbeiterbewegung. Die Chemnitzer Variante dieser Spaltung weist einige Besonderheiten auf. In Chemnitz gab es im Gegensatz etwa zu Leipzig keine gemäßigte Opposition gegen die Kriegspolitik der SPD, sondern es entstand um Fritz Heckert und Heinrich Brandler direkt eine Fundamentalopposition, was sicher auch den kompromisslosen, „sozialpatriotischen“ Kriegskurs der hiesigen Noske-Partei spiegelte. Bereits im Januar 1917 brach die Linke in Chemnitz mit der alten Partei, plädierte aber – auch hier durchaus einen Sonderweg gehend – nicht für einen Beitritt zur USPD, sondern für einen Ausbau des Spartakusbunds „zur eigenen Partei der radikalen Linken“. In Chemnitz gab es allerdings „keine USPD, unter deren Dach [man] sich hätte begeben können. Daher gründeten die Chemnitzer Spartakisten […] eine Ortsgruppe der USPD. Folglich waren USPD und Spartakus in Chemnitz bis Ende 1918 identisch, eine Erscheinung, die es sonst in Deutschland kaum gegeben haben dürfte. So blieben die Fronten innerhalb der Chemnitzer Arbeiterbewegung klarer abgesteckt als anderswo“. 23 In der Revolution selbst kam das merkwürdigerweise nicht zum Tragen. Hier zeigten sich ein relatives Kräftegleichgewicht zwischen SPD und Spartakus und damit zusammenhängend: „ein beträchtliches Maß an Kompromißbereitschaft“. 24 In gewisser Weise wurde hier ein Fundament gelegt für den vorerst letzten Versuch, die Spaltung der Arbeiterbewegung zu überwinden: das „linksrepublikanische Projekt“ der SPD-KPD-Regierung in Sachsen 1920-23. Die Chemnitzer Sozialdemokratie war eine der wesentlichen Triebkräfte dieses Projekts, das dadurch erleichtert wurde, dass SPD und KPD sich in dieser Zeit im Prinzip aus dem gleichen sozialen Milieu rekrutierten und die Spaltung an der Basis (noch) nicht vorangeschritten war.25 Das sächsische Experiment wurde von der sozialdemokratischen Reichsregierung unterbunden, und gerade die Chemnitzer Sozialdemokratie sah sich massivem Druck seitens des Parteivorstands ausgesetzt. 26 In der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik standen dann die Versuche der SPD im Vordergrund, den Anspruch auf politische und soziale Mitgestaltung zu realisieren. Die SPD nahm eine qualitative Veränderung des liberalen Rechtsstaats in Angriff und versuchte, dies zunächst mittels einer „strategischen Einheit“ mit dem Zentrum und dem (Links-)Liberalismus 27, dann aber auch in weiter gehenden, problematischeren Bündnissen zu realisieren, die aus SPD-Sicht zunehmend defensiven Charakter annahmen. Erst der Bruch der großen Koalition 1930 zwang die SPD zum Eingeständnis, „dass das Konzept einer reformorientierten Politik als Weg des friedlichen Hineinwachsens in den Sozialismus gescheitert war.“ 28 Resümiert man die Geschichte der Weimarer SPD unter dem Gesichtspunkt ihrer sozialen Zusammensetzung, dann zeigt sich vor allem, dass die SPD aufs Ganze betrachtet eine Arbeiterpartei blieb. Die Partei wies aber dennoch eine ausgeprägte Sensibilität für soziologische Verschiebungen innerhalb der Weimarer Gesellschaft auf und diskutierte notwendige Antworten, ohne dass sich das zu einer systematischen Debatte um einen volksparteilichen Wandel verdichtete.29 Der Begriff der Volkspartei kursier- te allerdings schon und bereits seit einiger Zeit. Eduard Bernstein hatte ihn 1905 eingeführt „und damit eine sozial heterogene, über die Arbeiterschaft hinausgehende, im Parlamentarismus verankerte SPD im Auge“ gehabt.30 Gegenüber dem Kaiserreich hatte die SPD sich bereits in den frühen zwanziger Jahren deutlich verändert: mehr Angestellte und Beamte, aber auch Arbeiter aus dem öffentlichen Dienst. „Von der beruflichen Zusammensetzung ihrer Mitglieder her war die SPD auf dem Weg zu einer ‚Staatspartei‘ zu werden und die Zeiten fundamentaler Opposition im Kaiserreich hinter sich zu lassen.“ 31 Eine „soziale Querschnittspartei“ war sie allerdings nicht, „da sie die soziale Zusammensetzung des deutschen Volkes in ihrer Mitgliedschaft nicht spiegelte“.32

Fünfte Phase: 1933-1945

Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung begegneten dem nationalsozialistischen Regime im Januar 1933 und auch danach nicht mit geschlossener Ablehnung. Vielmehr zeigte sich ein hohes Maß an Anpassung und Integrationsbereitschaft. Gleichzeitig war unter denen, die im Widerstand waren, ein überproportional hoher Anteil von Sozialdemokraten und Kommunisten. Generell muss mal wohl sagen, dass die Sozialdemokratie (aber auch die Kommunisten) von der Schnelligkeit und Brutalität, mit der der Nationalsozialismus bereits in den ersten Monaten vorging und in die Bastionen der Arbeiterbewegung einbrach, überrumpelt wurde.33 Zunächst glaubte man noch, legal Opposition treiben und Proteste innerhalb des Systems organisieren zu können. Ermächtigungsgesetz, Märzwahlen und schließlich das Verbot der SPD im Juni 1933 beendeten entsprechende Hoffnungen. Die SPD reagierte auf unterschiedliche Weise. Auffällig ist aber auch hier, dass die Partei nicht als Ganzes reagierte, vielmehr war der Kurs intern heftig umstritten. Die Parteiführung betonte, dass man politisch und ideologisch dem Regime gegenüber keine Kom- promisse und Zugeständnisse machen werde, rang sich aber zu mehr als symbolischer Opposition vorerst nicht durch. 34 „Die SPD verzichtete“, so die Historikerin Helga Grebing, „in nüchterner Einschätzung der Widerstandsmöglichkeiten und im Unterschied zur KPD auf den Aufbau informeller konspirativer Organisationen und unterließ auch die propagandistische Massenarbeit. Im Vordergrund stand nun das Untertauchen in das Nachbarschafts-, das Arbeits- und das Vereinsleben, wobei der Betrieb als ein Bereich, in dem die Nationalsozialisten die politische Kontrolle intensivierten, eine immer geringere Rolle spielte. […] Man wollte Überleben, untereinander Netze der Solidarität knüpfen, um nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur gemäß der Parole ‚Nach Hitler – wir!‘ bereit zu sein für die Übernahme politischer Verantwortung.“ 35 Das zeigen auch die Deutschlandberichte des Exil-Parteivorstands, die heute eine unschätzbare Quelle sind. Diese Berichte waren dem Programm einer objektiven Tatsachenerhebung verpflichtet und zielten nicht darauf, Widerstand und oppositionelles Bewusstsein durch Propaganda und Agitation zu steigern. „[D]eutlich spiegelt sich in [diesem] Konzept die beobachtendabwartende, zögernd-unentschlossene Haltung der Sopade gegenüber dem Dritten Reich.“ 36 Natürlich waren zahlreiche Sozialdemokraten aktiv im Widerstand, nur war dieser eben nicht Ergebnis systematischer Vorbereitung und Aktivität der Partei als solche. Widerstandsgruppen, wie die illegale Reichsbannerorganisation, der Rote Stoßtrupp in Berlin oder die Rechberg-Gruppe im Raum Heidelberg-Mannheim, waren zunächst relativ offene Gruppen, die locker auf Strukturen der Weimarer SPD zurückgriffen, dabei aber auch auf das eigene soziale und politische Milieu konzentriert blieben. Die meisten die- ser Gruppen waren bereits Mitte der dreißiger Jahre zerschlagen. 37 Danach fanden zahlreiche Sozialdemokraten den Weg in die Verschwörerzirkel, die in Richtung 20. Juli führten und sich aus einem teilweise sehr breiten politischen Spektrum rekrutierten.38 Über die SPD im Exil, die mitunter beindruckenden Analysen des nationalsozialistischen wie auch die Pläne für ein zukünftiges Deutschland ließ sich einiges sagen, aus Zeitgründen muss ich aber darauf verzichten.

Sechste Phase: 1945-1982

Der Neustart der SPD nach 1945 lief nahezu überall nach dem traditionellen Muster der „Massenpartei des arbeitenden Volkes“ ab. „Kurt Schumachers Vorstellung war es, dass sich die SPD unverändert im Kern auf die industriellen Arbeiter stützen, sich aber ‚volksparteilich‘ erweitern sollte; insbesondere die Mittelschichten und die Jugend, die während der Zeit des Nationalsozialismus aufgewachsen war“, sollten integriert werden.39 Unmittelbar nach 1945 gelang zwar ein erster Integrationsschub, der punktuell mit einem Generationenwechsel einherging, bereits 1947/48 verzeichnete man aber wieder erheblich sinkende Mitgliederzahlen. „Die Partei hatte alle für Öffnung sprechenden Neuzugänge wieder verloren […]. Wieder blieb sie beschränkt auf die Arbeiter, und es fehlten die Jüngeren, die Frauen, die Angestellten und Beamten oder sie blieben unterrepräsentiert.“40 Erst nach der neuerlichen Wahlniederlage 1957 begriff die SPD, „dass sie ihre Wagenburg-Mentalität verändern musste“.41 Seit Mitte der 1960er Jahre wandelte sich die soziale Basis der SPD sichtlich – sowohl mit Blick auf die Mitglieder als auch die Wähler. Die Partei wurde jünger und ihr soziales Zentrum verschob sich in Richtung der lohnabhängigen Mittelschichten und, immer deutlicher, in Richtung des öffentlichen Dienstes.42 In dem Maß, wie die SPD zum „Bestandteil und Motor einer gesellschaftspolitischen Reformbewegung geworden [war], die in der Bevölkerung große Akzeptanz fand“, wurde klar, dass sie nicht mehr ausschließlich die Partei der Arbeiterklasse war und sein konnte.43 Das erforderte Anpassungsprozesse, die nicht immer leicht waren. Die Integration der angestellten Mittelschichten und weiter Teile des öffentlichen Dienstes verlief noch einigermaßen unproblematisch. Von der Integration oder dem Bemühen um die junge Generation und die zahlreichen linksalternativen Strömungen lässt sich das nicht sagen. Teile der Alternativbewegung – und damit eben auch gehörige Teile einer ganzen Generation – lösten sich rasch von SPD, das Verhältnis zur Studentenbewegung blieb ambivalent. Partiell öffnete sich die SPD, teilweise entdeckten Angehörige des linksalternativen Milieus die SPD als Mittel zum Zweck und strömten in die Partei. Das veränderte die innere Struktur der SPD und ging einher mit einer ab und an doch über das Ziel hinausschießenden, harschen Abgrenzung von Kommunismus und Linksradikalismus seitens der Parteispitze. 44 Die programmatischen Veränderungen, die die SPD in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg durchlief, sind in den Grundzügen bekannt. Die Debatte, die Richtung Godesberger Programm (1959) führte, war bereits unmittelbar nach 1945 in Gang gekommen, dann aber unter der Decke gehalten worden. Godesberg war nicht der Anfang, sondern der Schlussstein eines anhaltenden Neunachdenkens über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft sowie von Freiheit und Sozialismus. 45 Das Godesberger Programm läutete einerseits eine Gemeinsamkeitspolitik in Richtung Großer Koalition ein, andererseits ermöglichte es die Integration des liberalen Bürgertums, ohne jedoch die Perspektive des demokratischen Sozialismus allzu sehr in den Hintergrund zu drängen.46 Diese Offenheit und der Kompromisscharakter von Godesberg schliffen sich später ab. ‚Wie hältst Du es mit Godesberg?‘ – so lautete seit Ende der Sechziger die Prüffrage, an der sich entschied, ob man zur Parteilinken oder zur Parteirechten gehörte. Die Jahre zwischen 1969 und 1982 sind in der Geschichtswissenschaft – mit Blick auf die Bundesrepublik – als „sozialdemokratisches Jahrzehnt“ bezeichnet wurden. Nicht nur stellte die SPD mit Willy Brandt und Helmut Schmidt die Kanzler, sie verkörperte auch den Zeitgeist und drückte ver- schiedenen Politikbereichen entscheidend und nachhaltig ihren Stempel auf: zum Beispiel in der Ostpolitik, aber natürlich auch im Bereich innerer Reformen. Die Idee der Demokratisierung brachte die Gesellschaft der Bundesrepublik gehörig in Bewegung. „Die Aufgabe der Politik sollte erweitert, Zukunft politisch gestaltet, dabei sollten Partizipation und Selbstbestimmung ermöglicht werden.“47 Das bewegte sich voll und ganz unter jenem sozialdemokratischen Wertehimmel, der sich bereits in der Grün- dungsphase herauskristallisiert hatte. Bereits Ende der siebziger Jahre lief das sozialliberale Reformprojekt leer. Die FDP verabschiedete sich in Richtung Wirtschaftsliberalismus, und die SPD wurde auf den Weg einer eher defensiven Krisenpolitik gezwungen. In diesem Prozess geriet die Partei in eine Identitätskrise. Eine Partei, die ihrem Selbstverständnis nach Wege in die Zukunft bauen wollte, die glaubte, dass mit ihr die neue Zeit ziehe – eine solche Partei hatte Schwierigkeiten damit, in erster Linie Krisenmanagement zu betreiben. Sie musste auch Schwierigkeiten damit haben, dass neue Themen und Zukunftsfragen durch Protestbewegungen aufgegriffen wurden, die an der Partei vorbei entstanden. „Die SPD verlor so ihr Oppositionsmonopol und ihr Protestpotenzial und geriet in eine Legitimationskrise als linke Partei.“ 48

Siebente Phase: 1982-heute

war es endgültig vorbei mit dem sozialdemokratischen Jahrzehnt. Mit der Regierungsverantwortung verlor die SPD den Kitt, der die verschiedenen sozialen Gruppen zusammengehalten hatte. Eine dauerhafte Integration der neuen sozialen Bewegungen war nicht gelungen. Teile der Neuen Linken im Umfeld der Studentenbewegung, die Ökologiebewegung und schließlich die wiedererstarkte Friedensbewegung wandten sich nun nachhaltig von der Sozialdemokratie ab bzw. es gelang der SPD nicht, frühere Brüche zu kitten und Entfremdungsprozesse umzukehren. Das war dort besonders fatal, wo die Brüche – wie im Fall der Friedensbewegung – tief ins sozialdemokratische und gewerkschaftliche Milieu hineinreichten.49 Es zeichnete sich in sozialer Hinsicht – und das war das Erbe Helmut Schmidts – ein Prozess ab, den man euphemistisch als ‚Konsolidierung‘ bezeichnen könnte. Faktisch war es aber ein Prozess der Homogenisierung und des Abschmelzens. Anders gewendet: Punktuell und themenbezogen war die SPD durchaus noch gesprächs- und kooperationsfähig in verschiedene Richtungen, viele Positionen und soziale Gruppen, die das betraf, waren aber nur noch schwer in der Partei zu halten. Sie wurden in gewisser Weise ausgegründet. Neben diesen Ausgründungen – neue Parteien, Bürgerinitiativen usw. – machte die SPD einen inneren Wandel durch. Ende der achtziger Jahre hatte sie „nichts mehr gemeinsam mit der alten SPD aus den 1950er Jahren. Sie war eine weitgehend dezentralisierte und segmentierte Großorganisation nach der Art eines Dienstleistungsunternehmens geworden, oder, als Bild wahrscheinlich angemessener, eine große Koalition von lokalen und regionalen Parteiorganisationen, überregionalen Interessengruppen, parteiübergreifenden Arbeitsgemeinschaften, durch Richtungen gekennzeichneten Kreisen, die insgesamt alle ein mehr oder weniger großes Maß an Autonomie besaßen oder doch in Anspruch nahmen.“ 50 Über die Wiedergründung der Sozialdemokratie in der DDR, die ostdeutsche Bürgerrechtsbewegung und das Versagen der damals jüngeren westdeutschen SPD-Spitze, im meine natürlich Oskar Lafontaine, muss ich vor diesem Publikum nicht viele Worte verlieren. Sie wissen das alles viel besser als ich, der ich zwar in der ehemaligen DDR groß geworden bin, 1989 aber gerade einmal elf Jahre alt war. Wenn ich bei diesem Thema den besserwisserischen Tonfall des jungen Historikers anschlagen würde, käme mir das irgendwie unangemessen vor. Entscheidend ist hier vielleicht nur die Feststellung, dass die ostdeutsche SPD ein gänzlich anderes Profil hatte als die SPD im Westen. Aus der ehemaligen DDR strömte ein bis dahin massiv umworbenes, aber kaum wirklich erreichtes Milieu in die Partei: Techniker, Ingenieure usw. Die Partei wurde zudem evangelischer und – ein Stück weit ‚bürgerlicher‘ und ‚liberaler‘. Die Stärken der Sozialdemokratie – das vielleicht als kleiner Anstoß für die anstehende Diskussion – liegen in ihrer Fähigkeit sozialen Wandel zu registrieren und immer wieder neue Bündnisse zu suchen und einzugehen, sich in sozialer Hinsicht immer wieder zu öffnen und einen innerparteilichen Pluralismus zu leben. Wann immer ihr das gelingt, war und ist die SPD stark. Je homogener sie dagegen war, desto schwächer wurde sie – bis zu dem Punkt, an dem sie auf eine Kernwählerschaft im engsten Sinn reduziert ist. Denken Sie an die letzte Bundestagswahl und die sächsi- schen Landtagswahlen, dann wissen Sie, was ich meine. Schließlich braucht eine starke SPD ihre Außenseiter und ausfransenden Ränder. Sie muss sich den Luxus auch unausgegorener Positionen leisten und nicht alles dem Zwang zu unterwerfen, im Hier und Jetzt, heute und unmittelbar realistisch und mehrheitsfähig zu sein.

Vielleicht etwas weniger Helmut Schmidt und wieder etwas mehr August Bebel.

mehr über den Autor

 

1 Vgl. „Einmal kommt die Zeit“. Geschichte der Chemnitzer Arbeiterschaft vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Bielefeld 2001, S. 210-212.
2 Vgl. ebd., S. 219-222.
3 Vgl. Welskopp, Thomas: Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000, S. 219f.
4 Vgl. ebd., S. 23.
5 Ebd., S. 91.
6 Schaller, Einmal kommt die Zeit, S. 190f.
7 Welskopp, Banner der Brüderlichkeit, S. 30f.
8 Ebd., S. 531f.
9 Ebd., S. 567.
10 Vgl. Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 27f.
11 Vgl. ebd., S. 29f.
12 Vgl. Welskopp, Banner der Brüderlichkeit, S. 24.
13 Vgl. Schaller, Einmal kommt die Zeit, S. 322.
14 Vgl. Schorske, Carl E.: Die große Spaltung. Die deutsche Sozialdemokratie 1905-1917, Berlin 1981, S. 23.
15 Schaller, Einmal kommt die Zeit, S. 328f.
16 Vgl. ebd., S. 278-289.
17 Welskopp, Banner der Brüderlichkeit, S. 213.
18 Grebing, Helga: Arbeiterbewegung. Sozialer Protest und kollektive Interessenvertretung bis 1914, München 1985, S. 119f.
19 Schorske, Große Spaltung, S. 287f.
20 Vgl. Berman, Sheri: The Social Democratic Moment. Ideas and Politics in the Making of Interwar Europe, Cambridge/MA 1998, S. 2.
21 Vgl. Brandt, Peter: Deutschland 1918/19 – Revolution und Konterrevolution, in: ders. (Hg.), Soziale Bewegung und politische Emanzipation. Studien zur Geschichte der Arbei- terbewegung und des Sozialismus, Bonn 2008, S. 43-58.
22 Vgl. Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 70f.
23 Schaller, Radikalisierung, 92f, 96, 101f, Zitat, S. 103.
24 Vgl. ebd., S. 114f.
25 Vgl. ebd., S. 183-185.
26 Vgl. ebd., S. 193f.
27 Vgl. Grebing, S. 75.
28 Ebd., S. 83.
29 Vgl. ebd., S. 91f.
30 Ebd., S. 76.
31 Vgl. ebd., S. 86.
32 Ebd. S. 87.
33 Vgl. Grebing, S. 111f.
34 Vgl. Vogt, S. 369f.
35 Grebing, S. 113.
36 Voges, Michael: Klassenkampf in der „Betriebsgemeinschaft“. Die Deutschland-Berichte der sopade (1934-1940) als Quelle zum Widerstand der Industriearbeiter im Dritten Reich, in: AfS 21 (1981), S. 329-383, Zitat S. 335.
37 Vgl. Vogt, Stefan: Nationaler Sozialismus und Soziale Demokratie. Die sozialdemokratische Junge Rechte 1918-1945, Bonn 2006, S. 386f.
38 Vgl. ebd., S. 411.
39 Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 130f.
40 Ebd., S. 139.
41 Ebd., S. 143.
42 Vgl. ebd., 183.
43 Ebd., S. 177f.
44 Faulenbach, S. 28f.
45 Vgl. Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 148f.
46 Vgl. ebd., S. 165.
47 Faulenbach, S. 17.
48 Grebing, S. 181f.
49 Vgl. Brandt, Nachrüstungsdebatte, S. 346f.
50 Grebing, S. 195.

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