Die Gründung der Karl-Marx-Städter SDP 1989 im Spiegel der Stasi-Akten

2014 jährte sich die Gründung der SDP in Karl-Marx-Stadt zum 25. Mal. Anlässlich dieses Jubiläums stellte die SPD Chemnitz einen Forschungsantrag bei der Stasiunterlagenbehörde (BStU), um herauszufinden, in welchem Umfang das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) über die Gründungsaktivitäten Bescheid wusste.

 

Am 18. November 2014 konnten Stephanie Pietsch und Dieter Häcker das Material bei der BStU einsehen. Es war umfangreicher als vermutet. Es lagen sowohl handschriftliche IM-Berichte als auch maschinenschriftliche Bearbeitungen dieser Berichte durch das MfS vor. Einige Namen waren geschwärzt, konnten aber doch aufgrund der vorhandenen Kenntnisse zugeordnet werden. Dabei zeigte es sich, dass die bisher veröffentlichten Daten nur in Bezug auf die erste Zusammenkunft am 17. Oktober 1989 in zwei Punkten korrigiert werden müssen: Diese Zusammenkunft fand noch nicht im Lukas-Pfarrhaus, sondern in der Wohnung von Volkmar Wohlgemuth statt. Es nahmen daran auch nur 6 Personen teil: Neben Volkmar Wohlgemuth, der eingeladen hatte, Heinz Arnold, Mathias Wagner, Kerstin Pannier, Andrea Wagner und Silly Grumm. Neben Dieter Häcker stießen auch Roland Richter und René Kischkies erst am 18.Oktober zu der Gruppe.

 

Selbstverständlich wurde mit einer Beobachtung durch das MfS gerechnet, insbesondere auch durch Volkmar Wohlgemuth. Sicher hatte er aber nicht gedacht, dass schon bei der ersten Zusammenkunft am 17.Oktober in seiner Wohnung die Stasi zugegen war: IM „Annett Friedrich“ berichtete seither bis nach dem 7. November umfangreich über die Gruppe. Es liegen sowohl handschriftliche Berichte als auch vom MfS danach unterschiedlich bearbeitete maschinenschriftliche Versionen über die Zusammenkünfte am 17., 18. und 31. Oktober sowie die große Veranstaltung im Lukas-Pfarrhaus am 7. November vor. IM „Annett Friedrich“ nahm letztmalig am 23. November an einer Zusammenkunft der Gruppe teil, ging danach wohl in die Bundesrepublik und trat auch später politisch nicht in Erscheinung. Aufgrund der politischen Entwicklung entstand keinem der damaligen Akteure durch die Berichte ein Schaden.

 

In den IM-Berichten und den Bearbeitungen durch das MfS fällt folgendes auf:

  1. Über die Zusammenkunft am 18.10. wird ausführlich über eine Idee von Volkmar Wohlgemuth zum Parteiaufbau berichtet, die auf eine Geheimbundstrategie hinausläuft (vgl. BStU, MfS, BV KMSt, Abt. XX, Nr. 2073, Bd. 1, Bl. 26). Auch wenn sich die Beteiligten Dieter Häcker und Roland Richter nicht daran erinnern können, wird man annehmen können, dass IM „Annett Friedrich“ das nicht erfunden hat. Allerdings steht diese Darstellung im Widerspruch dazu, dass der IM-Bericht auch geplante öffentliche Auftritte im Namen der SDP bereits für den 27.10., Überlegungen für eine staatliche Anmeldung der SDP und Überlegungen für die Einrichtung eines Büros und einer Mitgliederkartei erwähnt. Eine Geheimbundstrategie kann somit nur als Idee für den Notfall entwickelt worden sein, hat aber zweifellos auch an diesem Abend keine größere Rolle gespielt. Ziel der Beteiligten (wohl mit Ausnahme von IM „Annett Friedrich“) war der Aufbau einer ganz normalen politischen Partei. Der Rang, der dem Gedanken der Geheimbundstrategie beigemessen wurde, sollte sicher die Gefährlichkeit der Gruppe hervorheben.
  2. Es wird zwar zum 17. und 18.10. über einen Brief informiert, der nach Berlin an die zentrale Initiativgruppe der SDP gebracht werden solle. Die erste Fassung dieses Briefes befand sich auch in den Akten. Im Bericht über die Zusammenkunft am 31.10. fehlt aber, dass Volkmar Wohlgemuth mitgeteilt hat, es sei eine Antwort eingegangen, die Gruppe sei die erste im Bezirk Karl-Marx-Stadt, und dass sich daraufhin die Gruppe – sicher recht anmaßend – zum Provisorischen Bezirksvorstand erklärte. Es werden dann zwar die Wahlen zu den verschiedenen Funktionen aufgeführt, ohne dass aber der Grund für diese Funktionswahlen benannt wird. Allerdings heißt es zu Volkmar Wohlgemuth, er solle „gleichfalls als Beauftragter mit Koordinierungsfunktion zwischen der Initiativgruppe Karl-Marx-Stadt zu anderen derartigen Initiativgruppen im Bezirk Karl-Marx-Stadt sowie zur „Zentrale“ der SDP nach Berlin wirksam werden.“ (BStU, MfS, BV KMSt, Abt. XX, Nr. 2073, Bd. 1, Bl. 81) – So geschwollen hat das auf dieser Zusammenkunft niemand formuliert. Es ist sichtlich Ausdruck der Bemühungen, die Konstituierung als normale politische Partei abzuwerten. Vielleicht war es auch mit dem Selbstverständnis von IM „Annett Friedrich“ nicht zu vereinbaren, in einem oppositionellen Parteigremium mitzuwirken. Es wird aber auch so getan, als hätten an dieser Zusammenkunft nur die mit einer Funktion betrauten Mitglieder teilgenommen. Tatsächlich haben aber alle bisherigen Mitglieder der Initiativgruppe und dazu erstmals auch Markus Schlimbach teilgenommen. Möglicherweise ist diese Unterlassung Ausdruck einer zweifellos entstandenen Unsicherheit angesichts des Geschehens jener Tage.
  3. IM „Annett Friedrich“ berichtete auch über die erste große Versammlung am 7.11. im Gemeindesaal im Lukas-Pfarrhaus mit 70 oder – dem Bericht zufolge – gar 80 Teilnehmern (BStU, MfS, BV KMSt, AKG, Nr. 5668, Bd.1, Bl. 86-87). Wiedergegeben wurde die Absicht, in den Stadtteilen SDP-Gruppen zu bilden. Dafür hatten sich mehrere Anwesende als Kontaktpersonen angeboten. IM „Annett Friedrich“ hat diese Angebote aber offenbar falsch verstanden, indem erklärt wurde, es gäbe bereits in den Wohngebieten Kaßberg, Gablenz, Bernsdorf, Sonnenberg, Schönau und Rabenstein solche Gruppen mit jeweils ca. 3 Mitgliedern. Falsch auf jeden Fall ist die Behauptung, Volkmar Wohlgemuth habe sich für sofortige Koalitionsgespräche mit LDPD, NDPD, CDU und DBD ausgesprochen. Es kann sein, dass er Gespräche mit den Blockparteien befürwortet hat – von „Koalitionsgesprächen“ aber hat er mit Sicherheit nicht gesprochen, einerseits, weil von einer Regierungsbeteiligung oder gar Regierungsübernahme der SDP zum damaligen Zeitpunkt noch keine Rede sein konnte (auch, wenn es manche Fehleinschätzungen gab), andererseits weil die Blockparteien noch zu sehr mit der SED verbunden waren: Gerade mal die LDPD hatte Mitte September vorsichtig eine Los-Lösung begonnen. Bei den anderen war bis zum 7.11. davon noch wenig zu spüren, Götting trat erst am 2.11. als CDU-Vorsitzender zurück. Volkmar Wohlgemuth hat seit dem 25.10. als Vertreter der oppositionellen Gruppierungen am OB-Gespräch teilgenommen, Mitte November bildeten diese Gruppen in Karl-Marx-Stadt die „Demokratisch-Oppositionelle Plattform“ (DOP): potentielle Partner der SDP waren auch in Karl-Marx-Stadt zum 7.11. das Neue Forum, der Demokratische Aufbruch, die Grüne Partei und – gewiss mit Abstrichen – die Vereinigte Linke (Böhlener Plattform), aber keinesfalls die Blockparteien. Vielleicht wurde IM „Annett Friedrich“ zu dieser Aussage durch den Führungsoffizier gelenkt: Misstrauen von SED und MfS gegen die Blockparteien und Verdrängung der Tatsache, dass die SDP damals Teil einer politischen Bewegung war; man versuchte wohl, die SDP (und sicher auch die anderen Gruppierungen jeweils für sich) als Einzelerscheinung zu verstehen. Möglicherweise muss man unter diesem Aspekt auch die o.g. Darstellung einer Geheimbund-Strategie verstehen. Vielleicht gehen diese Ungereimtheiten auf eine Einflussnahme des Führungsoffiziers von IM „Annett Friedrich“ auf die schriftlichen Berichte zurück.
  4. Zu 3 Mitgliedern der Gruppe – Volkmar Wohlgemuth, Dieter Häcker und Kerstin Pannier – sind die genauen Personaldaten (Geburtsdatum, Wohnanschrift, Tätigkeit, Betrieb) angegeben (BStU, MfS, BV KMSt, Abt. XX, Nr. 1024, Bd.1, Bl. 50). Von Mathias Wagner und Andrea Wagner hatte die Stasi offenbar nur die Wohnanschrift (die im Schreiben vom 20.10. an den SDP-Vorstand in Berlin stand) sowie das Geburtsdatum. IM „Annett Friedrich“ hatte zwar berichtet, Matthias Wagner sei wohl ein Mitarbeiter von Roland Richter, aber da das MfS offenbar nichts über diesen herausfinden konnte, war ihm anscheinend auch Mathias Wagners berufliche Tätigkeit nicht bekannt. Dass man zu Roland Richter offenbar nichts recherchieren konnte, weist wohl darauf hin, dass die Möglichkeiten des MfS nach dem 18.10. bereits erheblich eingeschränkt waren. Da aber ab dem 31.10. nur die mit einer Funktion betrauten Mitglieder der Gruppe genannt werden, kann nicht sicher gesagt werden, ob das MfS über die anderen Mitglieder (Silly Grumm, Heinz Arnold, René Kischkies, Markus Schlimbach) Erkenntnisse hatte. [Dieter Häcker]

 

Verwendete Dokumente:
BStU, MfS, BV KMSt, Abt. XX, Nr. 1024, Bd. 1, Bl. 48-51 und Bl. 57-60.
BStU, MfS, BV KMSt, Abt. XX, Nr. 2073, Bd. 1, Bl. 25-28.
BStU, MfS, BV KMSt, Abt. XX, Nr. 2073, Bd. 1, Bl. 80-82.
BStU, MfS, BV KMSt, AKG Nr. 5668, Bd. 1, Bl. 86-87.

 

siehe zum selben Thema auch:

Der Aufbau der Sozialdemokratischen Partei der DDR in Karl-Marx-Stadt im Herbst 1989

Lukassaal

Schreibe einen Kommentar