Ein Musterbeispiel für eine „demokratische Subkultur“

Veröffentlicht in: 150 Jahre SPD | 0

von Dr. Stephan Pfalzer, Stadtarchiv Chemnitz

[erschienen im „Chemnitzer Roland“, Heft 1, 2013, S. 8 – 12; mit freundlicher Genehmigung des Rechteinhabers]

Der Historiker Wolfram Wette prägte vor über 25 Jahren in seiner Biografie über den Chemnitzer sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten, den späteren ersten Reichswehrminister der Weimarer Republik Gustav Noske diese Metapher, mit der er die Dichte und die Besonderheiten der sozialdemokratischen Parteiorganisation in Chemnitz und seinem Umland am Vorabend des Ersten Weltkrieges charakterisierte. Der 100. Jahrestag des Parteitages der SPD in Chemnitz im vergangenen Jahr bot wiederum einen Anlass, in verschiedenen Formen auf die Geschichte der örtlichen Organisation der ersten deutschen Massenpartei zurückzublicken.

Wörtlich schrieb Wolfram Wette, „dass sich in der roten Hochburg Chemnitz in einer besonders prägnanten Weise eine sozialdemokratische Subkultur herausgebildet hatte, wie sie … ansonsten nur noch in wenigen vergleichbaren industriellen Ballungszentren zu finden war“. Das wirtschaftliche Umfeld, in dem die sich die Chemnitzer Sozialdemokratie entwickelte, beschrieb Gustav Noske durchaus treffend, indem er mit Blick auf den Parteitag 1912 davon sprach, dass „das Sausen Tausender Webstühle, das Surren von Millionen Spindeln, das Rattern unzähliger Maschinen sowie das Dröhnen der … Hämmer in den vielen Fabriken die denkbar passendste Begleitmusik“ für den Kongress boten.

In Chemnitz existierten 1912 1836 Fabriken, in denen fast 72 000 ArbeiterInnen beschäftigt waren. Schon Rudolph Strauß hat darauf verwiesen, dass – gemessen an der Einwohnerzahl – die Stadt damit in Sachsen die Spitzenposition einnahm und im Reich nur noch von Nürnberg und Essen übertroffen wurde. Die ortsüblichen Taglöhne betrugen laut „Arbeiterführer für Chemnitz und Umgegend“ für männliche Arbeitskräfte 3,00 Mark, für Frauen 1,75 Mark, für Jugendliche 1,50 bzw. 1,20 Mark und sicherten damit kaum die Existenz, was zu schwer wiegenden sozialen Problemen z. B. in der Wohnungsfrage und dem weit verbreiteten „Schlafgängertum“ führte. Unter diesem Aspekt waren durch Streiks errungene Lohnerhöhungen auch von nur wenigen Pfennigen pro Stunde ein Erfolg.

Jedoch muss auch darauf verwiesen werden – und den zeitgenössichen Funktionären war dieser Umstand durchaus bewusst – , dass gerade der Zustrom von billigen (und unorganisierten) Arbeitskräften aus dem erzgebirgischen und böhmischen Hinterland die Lohndrückerei der Chemnitzer Unternehmer beförderte und die Kraft der Gewerkschaften schmälerte, während qualifizierte und organisierte Arbeiter die Stadt verließen, um anderswo einen höheren Verdienst zu erlangen.

Gerade das Jahr 1911 war allerdings ein ereignisreiches Jahr mit Streiks, Aussperrungen und anderen Formen von Arbeitskämpfen gewesen; es stellte diesbezüglich den Höhepunkt seit dem großen Metallarbeiterstreik von 1871 dar. Im März streikten fast 10 500 Former und Gießer, es kam zu Aussperrungen. An den Aktionen beteiligten sich auch Kupferschmiede, Modell- und Fabriktischler. An den Lohnkämpfen beteiligten sich also Teile der fachlich qualifizierten Arbeiterschaft. Im August/September sperrten die Chemnitzer Unternehmer wiederum etwa 12 000 Arbeiter aus. Wie Ernst Heilmann auflistete, gab es 1911 insgesamt fast 140 Lohnbewegungen in Chemnitz, von denen immerhin 78 mit einem vollen und nur wenige ohne Erfolg endeten. Die Gewerkschaften zahlten in jenem Jahr insgesamt fast 1,5 Mio. Mark an Streikgeldern und anderen Unterstützungen, was für ihre Kampfkraft und finanzielle Potenz spricht.

Nach diesem Exkurs in das sozialökonomische Umfeld soll nun ein Blick in die „innere Struktur“ der „sozialdemokratischen Subkultur“ geworfen werden. Seit 1899 bestand der „Sozialdemokratische Verein für den 16. sächsischen Reichstagswahlkreis“ – so die etwas umständliche Benennung der regionalen Parteiorganisation. Daneben existierte noch ein System von Vertrauensmännern als eine Organisationsform, die aus den Zeiten des Sozialistengesetzes herrührte. 1903 wurden beide Formen zusammengeführt und in Gestalt des Wahlvereins gab es nun „eine einheitliche, klar strukturierte Organisation …, die bis in die Nachkriegszeit Bestand hatte“, wie Karlheinz Schaller einschätzte. Dem Verein gehörten insgesamt 32 Bezirksvereine an, die territorial die Stadt Chemnitz und deren Umlandgemeinden sowie im Südwesten Adorf, Neukirchen, Leukersdorf und Mittelbach umfassten. 1912 zählte der Verein etwa 14 300 Mitglieder, was mehr als einer Verzehnfachung seit der Jahrhundertwende entsprach. Bis 1914 – eine Auswirkung des Parteitags von 1912, worauf Karlheinz Schaller ebenfalls verweist, – stieg diese Zahl nochmals um rund 6000; immerhin ein Sechstel waren Frauen. Die mitgliederstärksten Bezirksvereine waren natürlich in den Arbeiterwohngebieten der Stadt Chemnitz verankert, in Chemnitz-Süd und -Ost, im Schloßviertel und in Gablenz. Starke Verbände gab es auch Harthau, Hilbersdorf und Kappel. Mit Bernhard Kuhnt war 1911 der erste hauptamtliche Sekretär angestellt worden; den Vorsitz hatte Max Müller inne. Dem Gewerkschaftskartell unter der Leitung von Max Heldt gehörten über 42 000 Mitglieder, also etwa 60 % der Chemnitzer Arbeiterschaft, an.

Das Aushängeschild und Organ des Wahlkreisvereins bildete die „Volksstimme“, die auch in den umliegenden Wahlkreisen Verbreitung fand. 1899 aus der Verschmelzung des „Chemnitzer Beobachters“ und der Burgstädter „Volksstimme“ hervorgegangen, erschien sie im (parteieigenen) Verlag Landgraf & Co.; Geschäftsführer war Emil Landgraf. Für die Bedeutung und die öffentliche Reputation der Zeitung spricht schon die Tatsache, dass ihr in der Rathausfestschrift von 1911 fünf gut illustrierte Seiten gewidmet wurden, die keine politische Häme oder Seitenhiebe beinhalteten. Die finanzielle Situation des Blattes erwies sich als stabil. Sie zählte 60 000 Abonnenten; die Zahl der Leser dürfte zwei- bis dreimal höher gelegen haben. Stetige Einnahmen bildeten Werbung und Inserate – keines der großen Geschäftshäuser der Stadt konnte bei seinen Werbekampagnen an der Zeitung vorübergehen.

1911 wurde das modern ausgestattete Gebäude an der Dresdner Straße bezogen; die Druckerei befand sich auf dem neuesten Stand der Technik. August Bebel soll geäußert haben, „dass es doch etwas zu elegant ausgefallen“ wäre. Die Dresdner Straße bildetete auch ein Verwaltungszentrum für die örtliche Sozialdemokratie. Hier hatten u. a. das Parteisekretariat und die Bauarbeitergewerkschaft ihren Sitz.

Ein zweites politisch-organisatorisches Zentrum der Arbeiterbewegung befand sich im Komplex Zwickauer Straße 152, dem Volkshaus „Colosseum“. Das Chemnitzer Volkshaus ordnete sich in eine reichsweit zu beobachtende Bewegung ein, mit der zunächst Sozialdemokratie und Gewerkschaften das Ziel verfolgten, sich mit der Schaffung eigener Räumlichkeiten von den örtlichen Gastwirten und Restaurantbesitzern unabhängig zu machen und um über geeignete entsprechend den steigenden Mitgliederzahlen auch große Räumlichkeiten zu verfügen. Ein besonders markantes Beispiel soll diesen Zusammenhang belegen: Noch 1912, als die SPD schon längst eine reichsweit anerkannte Massenpartei und ebenso ein Wirtschaftsfaktor geworden war, weigerte sich der Chemnitzer Kaufmännische Verein, sein repräsentatives Vereinshaus an der Moritzstraße für die Durchführung des Parteitages bereitzustellen, sodass die Partei ihre „Heerschau des Proletariats“ in den „Wintergarten“ nach Schönau verlegen musste.- Über dieses unmittelbare Ziel sollte die Volkshauskultur allerdings bald weit hinausgehen. Volkshäuser – man denke nur an die in Altenburg, Dresden, Halle, Jena und Leipzig (um nur auf die nächstgelegenen und größten zu verweisen) – ordneten sich architektonisch gut in die Stadtbilder ein. Sie wurden zu zentralen Orten nicht nur für politische Ereignisse sondern in zunehmendem Maße auch für kulturelle Veranstaltungen und strahlten somit in das sie umgebende Milieu aus.

Der Chemnitzer Volkshaus-Verein wurde 1902 gegründet; 1904 erwarb man Grundstück und Gebäude des seit 1869 existierenden Restaurants „Coloseum“ und führte die Wirtschaft in Eigenregie fort. 1909/1910 erfolgte der zweckmäßige Anbau. Das Gewerkschaftssekretariat, das Arbeitersekretariat, die Metall- und Textilarbeitergewerkschaft und die Herbergskommission hatten hier neben anderen Organisationen und Einrichtungen ihren Sitz. Das Volkshaus verstand sich aber auch als „Kulturzentrum der Sozialisten“ und diente als Herberge für ankommende und durchreisende Arbeiter.

Eine besondere Rolle kam dem Arbeitersekretariat zu. Am 1. April 1904 eröffnet, wurde es von Anfang an hauptamtlich geleitet. An seiner Spitze stand Robert Straube, von 1919 bis zu seinem Tod 1926 Stadtverordnetenvorsteher. Das Sekretariat konnte kostenlos von allen genutzt werden, erteilte Auskünfte und fertigte Schriftstücke wie Klagen, Eingaben und Beschwerden. Es wurde zu einem unentbehrlichen Helfer für die Arbeiter in Rechtsfragen des Alltags. Dazu zählten Probleme mit dem Arbeitsschutz und der Sozialversicherung, mit dem Vereins- und Versammlungsrecht. Wichtig war auch die Beratung zu Fragen des Staatsangehörigkeits- und Bürgerrechts, hing doch davon die Ausübung politischer Rechte wie des Wahlrechts ab. 1912 und 1913 zählte das Arbeitersekretariat jeweils um die 11 000 Besucher. Die städtische Obrigkeit war sich ebenfalls der Notwendigkeit der kostenlosen Rechtsauskunft gerade an Arbeiter, Gehilfen, Frauen und kleine Angestellte bewusst geworden. 1907 – also drei Jahre nach dem Arbeitersekretariat – entstand eine entsprechende Auskunftsstelle des Rates der Stadt, die 1911 etwa 5400 Besucher zählte. Dort wurden vor allem Auskünfte zu Mieten, Schulden und Unterhaltszahlungen erteilt – auch dies ein Spiegel der sozialen Verhältnisse in der Stadt.

Eine wichtige Aufgabe im Kontext dieser „sozialdemokratischen Subkultur“ kam den Aktivitäten auf den Gebieten Kultur und Bildung zu. Die deutsche Vorkriegssozialdemokratie nahm es durchaus ernst mit ihrer Auffassung, dass das Streben nach Bildung zur geistigen Freiheit der Arbeiterschaft beitrug und somit einen unverzichtbaren Beitrag zur „Befreiung der Arbeiterklasse“ insgesamt leistete. Vorrangig oblagen diese Aufgaben den Bildungskommissionen. Kunstabende mit Sängern und Schauspielern standen dabei ebenso auf dem Programm wie Volkskonzerte. Breit war auch die Vortragstätigkeit angelegt, wobei die Palette von allgemein-politischen Themen über Vorträge zur Frauenfrage und Jugendbewegung bis hin zu Fragen von Glauben, Religion und Gesundheitsfürsorge reichte. Im Berichtsjahr 1911/1912 fanden z. B. Vortragszyklen zum Erfurter Programm – einem Herzstück sozusagen – aber auch zum Thema „Arbeiterbewegung und Technik“ mit jeweils Hunderten Teilnehmern statt. Referenten waren neben den Chemnitzer Partei- und Gewerkschaftsführern führende sächsische Sozialdemokraten und Landtagsabgeordnete.

Eine große Rolle spielte die am 14. Februar 1912 eröffnete Parteibücherei, die sich ebenfalls in der Dresdner Straße 38 befand. Dort standen fast 4000 Bücher und Broschüren bereit, die zum großen Teil durch Schenkungen dorthin gelangt waren; im ersten Halbjahr gab es fast 2000 Leser mit 4500 Ausleihen. Für die Offenheit der Bibliothek und ihr Bestreben, einem breiten Informationsbedürfnis zu genügen, spricht die Tatsache, dass alle Chemnitzer Tageszeitungen, Dresdner und Leipziger Blätter sowie die reichsweit renommierte „Frankfurter Zeitung“ sowie das ebenso bedeutende „Berliner Tageblatt“ auslagen. Neben der Bibliothek gab es noch Jugendbibliotheken in Gablenz, Kappel und in Schloßchemnitz.

Bei allem Respekt vor dem in Partei und Gewerkschaft, mit der „Volkstimme“ und dem Volkshaus Erreichten – gemessen wurden der Erfolg und die Stärke der Sozialdemokratie letztlich an den Wahlergebnissen. Von 15 Wahlen zum Reichstag seit 1867 gewann die Partei im Chemnitzer Wahlkreis elf; seit 1890 hielt sie ununterbrochen das Mandat. Bei den Wahlen 1912 stimmten rund 64 % für Gustav Noske. Wie Karlheinz Schaller allerdings feststellte, war damit das sozialdemokratische Wählerpotenzial ausgeschöpft; neue Wählergruppen konnten nun nur noch durch die Öffnung der Partei insgesamt erschlossen werden – auch diese Überlegung sollte die Parteitaktik letztlich mit prägen. Differenzierter sahen die Ergebnisse jedoch bei den Landtags- und Stadtverordnetenwahlen aus. 1909 war die Zweite Kammer des sächsischen Landtags neu gewählt worden. Aufgrund des undemokratischen Wahlrechts, das je nach Besitzstand bis zu vier Stimmen zuließ, spiegelte sich der Stimmenanteil insgesamt nicht in der Sitzverteilung wider. Von den sechs Landtagswahlkreisen Chemnitz und Umgebung jedenfalls errang die SPD vier.

Noch gravierender stellte sich das Missverhältnis zwischen Stimmenanteil und Sitzen bei den Stadtverordnetenwahlen dar. Hier hatte die Partei 1897 auf Anhieb ein Drittel der Sitze gewinnen können. Das Chemnitzer Bürgertum reagierte mit blankem Entsetzen und einer Wahlrechtsänderung, die Dieter Häcker schlicht als „Herrschaft des Geldsacks“ charakterisiert hat. Fortan konnte die Sozialdemokratie, obwohl stets von mehr als der Hälfte der Wahlberechtigten gewählt, nur noch neun von 57 Sitzen gewinnen. Dieses Wahlrecht blieb bis zur Novemberrevolution bestehen. Erst das erste nach dem allgemeinen, direkten und gleichen Wahlrecht im Januar 1919 gewählte Kollegium widerspiegelte mit der absoluten Mehrheit der SPD den tatsächlichen Wählerwillen.

Den erreichten Stand der Arbeiterbewegung in Chemnitz und seinem Umland widerspiegelte der umfängliche Band „Geschichte der Arbeiterbewegung in Chemnitz und dem Erzgebirge“, den in anstrengender dreimonatiger Tag- und vor allem Nachtarbeit der Chefredakteur der „Volksstimme“ Ernst Heilmann verfasst hatte. Damit lag nach der Berliner und Hamburger die dritte Regionalgeschichte der deutschen Sozialdemokratie vor. Dadurch, dass sich Heilmann methodisch an Franz Mehrings „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie“ anlehnte, ohne dass dabei die regionale Spezifik zu Schaden kam, gelang ihm auch der Anschluss an die so zu sagen parteioffizielle Geschichtsschreibung. Mit seiner Geschlossenheit, Anschaulichkeit und Lebendigkeit setzt das Werk bis heute Maßstäbe. Heilmann wurde damit der erste Parteihistoriker unserer Region; erst neunzig Jahre später erschien mit dem Band „Einmal kommt die Zeit“ von Karlheinz Schaller ein Nachfolger.- Das Werk wurde den Delegierten und Gästen des Parteitages 1912 übergeben.

All diese Fakten zusammen fassend und bewertend, sprach Wolfram Wette durchaus zutreffend davon, dass sich in Chemnitz ein „Besitzstand“ der Arbeiterbewegung herausgebildet hatte, dass inmitten der kapitalistischen Umwelt eine vielgestaltige Gegenwelt entstanden war, die sich durchaus nach eigenen Gesetzen entwickelte. Die Arbeiterorganisationen und ihre Einrichtungen vermittelten Heimat, das Gefühl der Zusammengehörigkeit und des Stolzes. Im wahrsten Sinne des Wortes aus „Arbeitergroschen“ (der wöchentlichen Klebemarke für den Beitrag) entstanden, sollten sie nicht aufs Spiel gesetzt werden. Das beeinflusste wiederum die politische Haltung und widerspiegelte sich letztlich in den beiden Flügeln innerhalb der SPD, die sich durchaus auch in Chemnitz nachweisbar sind. In einigen Fragen – und dabei in einer solch prinzipiellen wie der politischen Rolle der „Volksstimme“ – wurden zwar die Standorte deutlich, letztlich aber bedurfte es erst des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges, um die Gegensätze in vollem Umfang und scharf aufbrechen zu lassen.

Die Chemnitzer Sozialdemokratie brachte eine ganze Reihe von Funktionären hervor, die in den Jahren der Weimarer Republik in den verschiedenen politischen Lagern innerhalb der Arbeiterbewegung wirkten und deren spätere politische Verortung während ihrer „Chemnitzer Zeit“ sich bereits angedeutet hatte. So finden wir den eingangs erwähnten Reichstagsabgeordneten Gustav Noske als ersten Reichswehrminister und Präsidenten der Provinz Hannover auf dem rechten Flügel der SPD; für das Magazin „Der Spiegel“ galt er als der „umstrittenste Politiker seiner Partei“. Ernst Heilmann wurde als Vorsitzender der sozialdemokratischen preußischen Landtagsfraktion zu einem Garanten der neuen Republik. Den Nazis als solcher und als Jude doppelt verhasst, durchlief er das Martyrium der Konzentrationslager und wurde am 3. April 1940 in Buchenwald ermordet. Parteisekretär Bernhard Kuhnt wurde Mitglied der USPD, gelangte 1922 wieder zur SPD; obwohl zum linken Parteiflügel gehörig, schloss er sich 1931 nicht der SAPD an. Er starb 1946. Max Heldt amtierte von 1924 bis 1929 als Ministerpräsident Sachsens am längsten in der Weimarer Zeit; der Preis dafür war die Spaltung der sächsischen SPD, von der er sich trennte. Max Müller ging als sächsischer Minister den gleichen Weg. Beide verstarben 1933. Heinrich Brandler und Fritz Heckert hingegen wurden gleichsam Mitbegründer der KPD. Während Brandler – 1923 immerhin Parteivorsitzender – 1929 aus der Partei ausgeschlossen wurde und in die KPD-Oppostion eintrat, stieg Fritz Heckert in das Politbüro auf und übte Führungsfunktionen in der Kommunistischen Internationale aus; er starb 1936 im Moskauer Exil. Heinrich Brandler kam nach seinem Exil 1949 in die alte Bundesrepublik und verstarb 1967.- Insofern ist die Chemnitzer Vorkriegssozialdemokratie geradezu ein Schmelztiegel gewesen.

Abgerundet wird das Bild von der „sozialdemokratischen Subkultur“ auch mit dem Hinweis, dass in den Jahren vor 1914 sich neue Betätigungsfelder für die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften zeigten. Genannt seien die Konsum- und Sparvereine und das mit der Gründung der Allgemeinen Baugenossenschaft 1912 einsetzende genossenschaftliche Bauen, das nicht nur architektonisch große Teile einzelner Stadtviertel prägen sollte, sondern auch zu einer neuen Kultur des Zusammenlebens und der Lebensformen beitrug. Zu erwähnen sind die Arbeiter-Samariter-Bewegung, die Anfänge der Reformpädagogik und des Kleingartenwesens sowie die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entfaltende Arbeiterturnbewegung. Die große Zeit für diese neuen Politik- und Betätigungsfelder begann allerdings erst nach dem Ersten Weltkrieg, als die Sozialdemokratie auch in Chemnitz erstmals eine wirkliche Gestaltungsmöglichkeit besaß, und sollte nach nur anderthalb Jahrzehnten mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten jäh beendet werden. [Dr. Stephan Pfalzer]

 

Literatur:
Geschäfts- und Kassen-Bericht für die Zeit vom 1. Juli 1911 bis mit 30. Juni 1912. Hrsg.: Sozialdemokratischer Verein für den 16. sächsischen Reichstags-Wahlkreis, Chemnitz 1912
Desgl. für die vom 1. Juli 1912 bis mit 31. März 1913, Chemnitz 1913
Desgl. für die Zeit vom 1. April 1913 bis mit 31. März 1914, Chemnitz 1914
Arbeiterführer für Chemnitz und Umgegend 1913/1914. Hrsg. vom Gewerkschaftskartell Chemnitz, Chemnitz o. J.
Rudolph Strauß: Der Polizeidirektor berichtet. In: Beiträge zur Heimatgeschichte von Karl-Marx-Stadt, Heft 11, Karl-Marx-Stadt 1962
Autorengemeinschaft: Die SPD im Chemnitzer Rathaus 1897 – 1997, Hannover 1997
Ernst Heilmann: Geschichte der Arbeiterbewegung in Chemnitz und dem Erzgebirge, Chemnitz o. J. (1912)
Stephan Pfalzer: Ernst Heilmann in Chemnitz. In: Mitteilungen des Chemnitzer Geschichtsvereins, 63. Jahrbuch/Neue Folge II, Chemnitz 1994, S. 57 – 68.
Karlheinz Schaller: „Einmal kommt die Zeit“. Geschichte der Chemnitzer Arbeiterschaft vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Bielefeld 2001
Wolfram Wette: Gustav Noske. Eine politische Biographie, Düsseldorf 1987

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