Als am 10. Juni 1945 die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) durch Befehl Nr. 2 die Bildung antifaschistischer, demokratischer Parteien und Gewerkschaften in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) erlaubte, wurde wenig später, am 18. Juni 1945, auch in Chemnitz die SPD wieder zugelassen. Hierbei konnte die Chemnitzer SPD bereits einen fast sechswöchigen Wiederbegründungsprozess vorweisen, der dadurch begünstigt wurde, dass in der Stadt Chemnitz vom 7./8. Mai bis zum 15./16. Juni 1945 bis auf nordöstliche Randlagen (Glösa und Ebersdorf) keine sowjetischen Truppen stationiert waren. Diesowjetische Besatzungsmacht übte die politische Steuerung durch eine Stadtkommandantur in der Industrie- und Handelskammer Carolastr. aus, wobei in dieser Zeit aber auch noch ein amerikanischer Verbindungsstab im fast gegenüberliegenden „Chemnitzer Hof“ residierte, der sich vor allem mit der Truppenversorgung in den westlichen Vororten der Stadt (Siegmar, Grüna, Rabenstein, Röhrsdorf und Limbach-Oberfrohna) und Eisenbahntransportlogistik befasste.
Ausgehend von seit 1943 in Chemnitz bestehenden illegalen SPD-Gesprächskreisen, trafen sich am 10. Mai 1945 30 bis 40 Chemnitzer Sozialdemokraten. Dadurch konnte erreicht werden, dass die sowjetische Kommandantur auf Vorschlag des Antifa-Komitees mit Wirkung vom 15. Mai 1945 auch geeignete und erfahrene SPD-Genossen in wichtige öffentliche Ämter berief, um das Leben in der vom Krieg schwer gezeichneten Stadt wieder in Gang zu bringen (so Albert Jentzsch als 2. Bürgermeister, Fritz Uhle als Ernährungs- und Wirtschaftsamtsleiter, Moritz Nestler als Schulrat oder Josef Siegnoth als Arbeitsamtsdirektor). Am 16. Mai 1945 wurde ein informeller Bezirksvorstand mit August Friedel als Vorsitzenden gebildet.
Parallel entwickelte sich in den Mai- und Juniwochen an der Basis ein Parteileben. So ist für den 20. Mai 1945 die erste Versammlung des Ortsvereins Chemnitz-Schloss mit 48 Mitgliedern nachgewiesen, er wuchs schließlich bis zum April 1946 auf 1421 Mitglieder an. Am 15. Juli 1945, nachdem durch die Parteienzulassung auch in der Öffentlichkeit – wenn auch unter Einschränkungen – für ein Programm des demokratischen Sozialismus geworben werden konnte, hatte die Chemnitzer SPD bereits ca. 3500 Mitglieder und wurde damit die stärkste Partei. „Ein fester Mitgliederbeitrag wurde nicht erhoben, jeder zahlte nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen“ (August Friedel).
Die Arbeit vor Ort fand in den spontan gebildeten Antifa-Ausschüssen in den Stadtteilen und in gewerkschaftlichen Treuhandbetrieben statt. Die freiwillige Teilnahme an Arbeitseinsätzen zur Trümmerberäumung stand auf der Tagesordnung. In dieser ersten Phase war die Bereitschaft der Mitglieder zur Einheit mit der anderen Arbeiterpartei auf Grund der riesigen Aufgaben und als historischer Auftrag im Rückblick auf die Zeit der Weimarer Republik und die Nazizeit noch überwiegend, zu einem Zeitpunkt, als die KPD diese noch aus taktischen Gründen ablehnte.
Die zweite Phase zunehmender Besinnung auf die Eigenständigkeit der Chemnitzer SPD von Juli bis Oktober 1945 beruhte zum einen auf dem Selbstvertrauen, dass durch den raschen Parteiaufbau und die programmatische Zustimmung eines Großteils der Einwohner gewonnen werden konnte. Zum anderen beginnt mit der von der Besatzungsmacht am 26. Juni 1945 verordneten Blockpolitik eine Zeit, in der in einer Arbeitsgemeinschaft mit der KPD bereits die Zusammenarbeit geprobt wurde: in der Regel wurden die Sozialdemokraten vor vollendete Tatsachen gestellt, der direkte Draht der KPD zur Besatzungsmacht, der demokratische Willensbildungen nach Tradition der SPD ausschloss, war unübersehbar. Gleichzeitig wurde die Benachteiligung der SPD in politischen und materiellen Fragen noch offen- sichtlicher, beispielhaft ist, dass die alten Parteigebäude in der Dresdener Str. 38-40 zwar teilweise zur Nutzung freigegeben, aber nicht rückübertragen wurden oder dass die traditionelle „Volksstimme“ mit eingeschränkter Auflage erst im Oktober 1945 erscheinen konnte. Auch die rigorose Personalpolitik der KPD in den Verwaltungen sowie aktuelle Erfahrungen mit dem sowjetischen System ließen keine Einheitsbegeisterung aufkommen.
Folgerichtig sprachen sich die Chemnitzer Delegierten auf dem ersten Landesparteitag der sächsischen SPD (5. bis 7. Oktober 1945 in Freital) gegen die Einheit aus.
Die dritte Phase begann etwa Mitte November 1945, als die KPD in der SBZ in der Erkenntnis, alleine in der Bevölkerung trotz verstärkter Mitgliederwerbung nicht mehrheitsfähig zu werden, in Abstimmung mit der SMAD einen Strategiewechsel hin zur Einheitspolitik vollzog. Die SPD war nunmehr einer forcierten Einheitspolemik der KPD ausgesetzt, die sich auch agitatorischer Scheinargumente wie „Einheit der Arbeiterklasse ist Basis der Einheit Deutschlands“ bediente und vor allem in der Endphase vor der Anwendung von Repressionen mit Hilfe der Besatzungsmacht nicht zurückscheute.
Die Sechziger-Konferenz von KPD und SPD am 20./21. Dezember 1945 in Berlin stellte dann die Weichen für die Einheit, doch konnte die SPD durch verschiedene Bedingungen (Reichsparteitag u.a.) einen Sofortvollzug in der SBZ zunächst verhindern.
Taktik der KPD wurde nunmehr die gleichzeitige Propagierung der Einheit „von unten“. Im Januar/Februar 1946 wurde eine Welle von Versammlungen inszeniert und damit auch die Öffentlichkeit mobilisiert. Auffallend und bezeichnend ist, dass in Chemnitz vor allem die hauptamtlichen Bezirkssekretäre (Nendel, Engelmann und Mückenberger) zu den entschiedensten Einheitsbefürwortern zählten.
Ein mutiges Zeichen setzte der Chemnitzer Unterbezirksparteitag am 13. Januar 1946 mit seiner Forderung nach Abhaltung einer Urabstimmung. Der Schlusspunkt wurde am 28. Januar 1946 gesetzt, als auf einem von Matern und Buchwitz erzwungenen Treffen der Landes- und Bezirksleitungen beider Landesparteien u.a. auch der 70jährige August Friedel seine Zustimmung zur s o f o r t i g e n Vereinigung gab – entgegen eines einmütigen Beschlusses der sächsischen Unterbezirkskonferenz am 20. Januar 1946 sowie des erweiter ten SPD-Landesvorstandes am 21. Januar 1946.
In der nun einsetzenden vierten und letzten Phase stand die sofortige Vereinigung nicht mehr zur Disposition. Viele SPD-Mitglieder fügten sich nun, teils genötigt, teils in der Hoffnung, sie könnten die neue Partei dominieren. In Anbetracht der Kräfteverhältnisse war diese Hoffnung formal nicht unbegründet: in der Chemnitzer Stadtverwaltung bspw. waren Ende 1945 von 7183 Beschäftigten 1263 in der KPD und 1463 in der SPD. Der gleichen Illusion gab sich zu diesem Zeitpunkt wohl auch noch Otto Grotewohl hin, der am Vorabend des am 3. Februar 1946 abgehaltenen Bezirksparteitages vertraulich vor Mitgliedern des Bezirksvorstandes das Bild des „Steuermannes auf einem großen Schiff“ verwandte und hinzufügte, er vertraue auf das Versprechen der SMAD, dass die Sozialdemokraten ihre Organisationsstruktur in der SED beibehalten könnten.
Die Atmosphäre dieses 2. SPD-Bezirksparteitages im überfüllten Luxor-Palast vor ca. 2000 Delegierten und Gästen unter Anwesenheit sowjetischer Politoffiziere und der Spitzen der Chemnitzer KPD sowie das Grundsatzreferat Otto Grotewohls („Ein Hoch auf die Einheit“) ließen eine offene Diskussion zur Sinnfälligkeit der (sofortigen) Einheit nicht mehr zu. Einzelne Diskussionsbeiträge (Gerhard Börner, Hans Hermsdorf) konnten allenfalls das Einbringen von Demokratie und Menschlichkeit in die Einheit anmahnen.
Die regionalen Vereinigungsparteitage von Unterbezirk und Bezirk am 30./31. März 1946 in Chemnitz im zeitlichen Vorfeld der sächsischen Landesvereinigung am 7. April 1946 dienten eigentlich nur noch der Abwicklung. Gleichwohl glaubte ein „Organisations-Komitee SPD-KPD Bezirk Chemnitz-Erzgebirge“ und der „FDGB-Ortsausschuss Chemnitz“ zur Mittagszeit des 30. März 1946 unter Freistellung von der Arbeit noch eine „pressure group“ von ca. 50 000 Menschen aus Chemnitzer Betrieben auf den Theaterplatz in Gang setzen zu müssen, die in einer “Massenkundgebung“ die sofortige Vereinigung beider Arbeiterparteien zur SED verlangte. Unter diesen Umständen muss es wie ein letztes Fanal erscheinen, wenn die einstimmige Entschließung des 3. und letzten Bezirksparteitages zur Einheit gleichzeitig den Willen zur Zusammenarbeit beider sozialistischen Parteien „auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus“ bekundet.
Auf der letzten Ortsvereinsversammlung Chemnitz-Schloss lautete der tapfere Ratschlag Moritz Nestlers: „ Unsern Mann stellen, die Einheitspartei mit unserm Geist erfüllen, den Staatsapparat in die Hand bekommen“. Seine Umsetzung musste in der bitteren Realität der kommenden Jahre Illusion bleiben.
Seit 1947 entwickelte sich die SED zu einer stalinistischen „Partei neuen Typs“. Schrittweise wurden ehemalige Sozialdemokraten aus Führungspositionen verdrängt, so der stellv. Polizeipräsident Karl Eger und im April 1948 der Stadtschulrat und AWO-Vorsitzende vor 1933, Moritz Nestler.
Nach entsprechenden Vorgaben im Juli 1948 durch den SED-Parteivorstand in Berlin eröffnete der Kreisvorsitzende der SED Chemnitz, Erich Mückenberger, ein früherer Bezirkssekretär der SPD, in der regionalen Parteipresse den „Kampf gegen die Schumacher-Leute“ innerhalb der SED. Im Februar 1949 setzte in Chemnitz im Zuge der Diktaturdurchsetzung eine umfassende Verhaftungswelle ein, der zahlreiche ehemalige SPD-Funktionäre, die ihren Idealen treu geblieben waren, zum Opfer fielen. So wurden Moritz Nestler und der Kreisschulrat Karl Rudolph, Karl Eger und der Direktor der Genossenschaftsbank Alfred Langguth, die leitenden Genossenschaftler Willy Lesser und Kurt König, der leitende IHK-Mitarbeiter Fritz Uhlmann sowie der Volksbühnenleiter Gerhard Kaderschafka und weitere Genossen zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt, andere (so der 2. Bezirksvorsitzende und Bürger- meister Hans Hermsdorf, das ehem. Bezirksvorstandsmitglied Walter Hedrich, der stellv. FDGB-Vorsitzende Erich Rottluff, der ehem. Geschäftsführer der Volksstimme und Konsumgenossenschaftler Gerhard Börner) flohen rechtzeitig nach dem Westen.
[Dr. Christoph Gericke]
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